‚Nation in Europa‘ oder ‚Nation gegen Europa‘ – ein andauerndes Spannungsverhältnis
Aleida Assmann
Im August 2017 machte sich eine Gruppe von Visegrád-Staaten auf den Weg nach Brüssel, um sich das Haus der Geschichte anzusehen. Die Delegation war nicht angetan von dem, was sie dort zu sehen bekam. Im Haus der Geschichte in Brüssel wird Europäische Geschichte grenzübergreifend als ein Beziehungsgeflecht dargestellt. Sie fanden Parallelen und Querverbindungen, doch was sie für das Wichtigste und Heiligste überhaupt hielten, nämlich ihre jeweilige Nation, kam in diesem Museum gar nicht vor.
Da sie sich von Brüssel nicht repräsentiert fühlten, kritisierten sie das Museum als eine bösartige Fälschung durch Vernichtung von Geschichte. Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hatte noch eine besondere Erklärung parat. Aufgrund der vollständigen Abwesenheit einer nationalen Perspektive unterstellte er dem Museum eine kommunistische Sicht. Er sah in der EU eine Neuauflage der Sowjetunion und die Polen abermals in der Opferrolle gegenüber einem ideologischen Feind. Die Ausstellung wertete er als eine Huldigung für den ‚homo sovieticus‘ – “ein Mensch ohne Nationalitäten in einer homogenen Masse identischer Nationen.” Was er erlebte, war eine Wiederholung der Geschichte. In seiner polnischen Sicht war Brüssel das neue Moskau. [Matthias Krupa, Feiert dieses Museum den Kommunismus? Die Zeit 19 (2018), 3.5.2018)]
Wenn wir über die Nation nachdenken, sind fraglos historische Erfahrungen und Gefühle im Spiel. Während in Polen der Schutz der Nation an oberster Stelle steht, möchte man in Deutschland den Begriff der Nation am liebsten aus dem Vokabular streichen, und zwar aus Gründen, die ebenfalls mit historischer Erinnerung zu tun haben. Während der Nazi-Zeit hatte das Land eine Überdosis Nationalismus erlebt, als der Staat sich in das mörderische Regime des Nationalsozialismus verwandelte – mit schlimmsten Folgen für andere Nationen und die europäischen Juden und andere schutzlose Minderheiten. In Polen dagegen führte die historische Erfahrung zur umgekehrten Lehre: nach feindlicher Invasion und Besatzung war das Land vollkommen von der Landkarte verschwunden. Und kaum war der polnische Staat nach dem Ersten Weltkrieg wiederaufgebaut, erlebte er lange Phasen der Verfolgung und gewalttätigen Besatzung durch Hitler und Stalin während des Zweiten Weltkriegs. Kein Wunder also, dass das Konzept der Nation in Polen eine ganz andere Bedeutung hat als in Deutschland oder Österreich. Während für Deutschland die EU eine willkommene Möglichkeit bot, sich in den Verbund der Staatengemeinschaft einzugliedern und das Thema der Nation dabei einzuklammern, wurde nach der Auflösung der Sowjetunion die EU für postsowjetische Staaten umgekehrt zum Garanten der Wiedergewinnung ihres Nationalstaats. Sie alle eröffneten umgehend Nationalmuseen, in denen sie ihre bis dahin unterdrückte Opfergeschichte unter Stalin (aber nicht unbedingt ihre Kollaborationsgeschichte mit Hitler) darstellten.
Die Nation als Auslaufmodell?
In Deutschland und Österreich gibt es viele Stimmen, die in der Nation ein Auslaufmodell sehen und sich als politischen Verbund eine andere, kosmopolitische Vereinigung wünschen. In Zeiten globalisierter Medien und eines weltumspannenden Kapitalmarkts, so das Argument, werden nationale Grenzen obsolet. Das Motto dafür lautet: ‚Denationalisierung als Chance‘. Es steht auf einem Buch von Michael Zürn mit dem Titel: Regieren jenseits des Nationalstaats. Dieses Buch erschien 1998. Wie ein solches Regieren konkret aussehen könnte, haben 20 Jahre später, im November 2018, Künstler*innen und Aktivist*innen genauer erklärt, die die ‚Republik Europa‘ am Gorki-Theater Berlin und an anderen Kulturorten ausriefen. Sie taten das in Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkriegs und die Ausrufung von demokratischen Republiken in verschiedenen europäischen Staaten hundert Jahre zuvor. Sie wollten damit ein Zeichen setzen gegen den wachsenden Nationalismus in Europa und auf der Welt. An verschiedenen Orten wurde ein Manifest verlesen, in dem die Politologin Ulrike Guérot und der Autor Robert Menasse das ‚Europa der Nationalstaaten‘ für gescheitert erklärten. Die Idee des europäischen Einigungsprozesses sei verraten, deshalb forderten sie die Souveränität von 442 Millionen Staatsbürger*innen der EU und die Abschaffung der Nationalstaaten. Die Träger ‚Republik Europa‘ sollten in Zukunft nicht mehr die Nationen, sondern die Städte und Regionen sein.
Wie sieht es weltweit mit Nationalstaaten aus? Nach 1990 zählten die Vereinten Nationen 193 Mitgliedstaaten. Mit ganz wenigen Ausnahmen, so schreibt der Staatsrechtler Alexander Thiele, sei „der gesamte Erdball aktuell von (modernen) Nationalstaaten bedeckt“. Weil darunter aber sehr viele Beispiele für ‚schlechte Nationalstaaten‘ sind, möchte auch er die Nation abschaffen. Er ist sogar überzeugt, dass die Idee des Nationalstaats „insgesamt als mehr oder weniger vollständig gescheitert angesehen werden muss.“ (227) Deshalb wünscht sich auch Thiele für die Zukunft einen denationalisierten Verfassungsstaat, in dem die Frage der Nationszugehörigkeit zu einer reinen Privatsache erklärt wird – analog zur Religion im Zeitalter der Privatisierung. (287) Er hält den Nationalstaat für eine religiöse Institution und hofft, „mit der Nation und dem Nationalismus die letzten sakralen Überreste aus dem Bereich des Staatlichen zu entfernen.“ (288)
Diese Gedanken sind sehr nachvollziehbar und sehr sympathisch, denn sie sind eine klare Antwort auf eine wichtige Einsicht. Diese besagt, dass Nationalstaaten die eingebaute Tendenz in sich haben, über kurz oder lang ihre demokratischen Grundlagen zu verraten und gewalttätig zu werden. Dafür gibt es in der Tat viele Beispiele. Wer die Worte ‚Nation‘ und ‚Nationalismus‘ benutzt, ohne sie begrifflich zu differenzieren, muss genau so argumentieren. Aber der Mangel an Differenzierung kann auch dazu führen, dass Wichtiges verwechselt und das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Es gilt nämlich zu fragen, innerhalb welcher Staatsform die Nation jeweils existiert – in einer Demokratie mit Rechtsstaat und der Anerkennung von Menschenrechten, oder in einer autokratischen Demokratie bzw. in einer Diktatur, wo Gewaltenteilung abgebaut, Bürgerrechte eingeschränkt und Menschenrechte missachtet werden? Historisch gesehen haben die Bürger*innen demokratischer Nationalstaaten wie Kanada, USA oder Frankreichhaben in aller Regel keine Probleme mit ihrem Nationsbegriff; Probleme haben diejenigen, die eine Diktaturgeschichte hinter sich haben und denen als ‚gebrannten Kindern‘ die Gefahr eines Rückfalls in autoritäre Strukturen besonders klar vor Augen steht.
Ich schlage hier deshalb eine einfache Unterscheidung zwischen dem liberalen (bzw. heterogenen oder zivilen) Nationalstaat und dem illiberalen, (bzw. militanten oder homogenen) Nationalstaat vor. Im einen Fall handelt es sich um einen Rechtsstaat, der Bürger- und Menschenrechte anerkennt und eine diverse Gesellschaft unterstützt, im anderen Fall um einen autoritären Staat, der nur eine Volksgruppe anerkennt, Feindbilder braucht, Fremde ausgrenzt und Minderheiten verfolgt.
Zwei Typen von Nationalstaat
Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Typ von Nation ist in der Geschichte mit schweren Verlusten erkämpft und errungen worden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand die EU als ein Verbund für den Typ des heterogenen Nationalstaats, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft leben und die gleichen Grundrechte genießen. Dieser neue Typ des liberalen Nationalstaats zeichnet sich durch weitere Neuerungen aus. Zum ersten Mal in der Geschichte schlossen sich Nationen zusammen, um ihre Wirtschaft und Rechtsordnung gemeinsam zu sichern. Dass dieser Staaten-Verbund einen neuen Typ von Nationalstaat hervorgebracht hat, ist auch die Überzeugung des US-amerikanischen Ökonomen Jeremy Rifkin. Er ist ein begeisterter Anhänger des Modells der EU und veröffentlichte 2004 ein Buch über den ‚europäischen Traum‘. In ihm sah er ein Modell, das dem ‚amerikanischen Traum‘ deutlich überlegen ist. „Der amerikanische Traum verblasst, während der europäische Konturen gewinnt. Er ist schon jetzt moralisch überlegen. (…) Wir sind auf Eigentumsrechte fixiert und auf Bürgerrechte. Sie sind die Basis unseres Individualismus und Elemente unserer Autonomie. Europäer sind auf soziale Rechte fokussiert. Und sie halten die Menschenrechte hoch: Man muss die Todesstrafe abschaffen, um EU-Mitglied zu werden.“[Europas Traum – Europas Wirklichkeit, Magazin Mitbestimmung, 11 (2004) https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-europas-traum-europas-wirklichkeit-5687.html]
Unter dem Eindruck zunehmender Migration und dem Aufstieg nationalistischer Parteien habe ich 2018 meinen ‚europäischen Traum‘ skizziert, den auch ich dem amerikanischen Traum gegenüberstelle. Ich beziehe mich dabei auf vier Lehren, die die Europäer nach 1945 und 1989 aus ihrer Geschichte gezogen haben. Diese Lehren sind nicht vergangenheits- sondern zukunftsorientiert: Das Friedensprojekt, das Demokratisierungsprojekt, eine selbstkritische Erinnerungskultur und eine neue Betonung der Menschenrechte. Mit der Identifizierung nicht nur demokratischer Strukturen sondern auch demokratischer Werte und Projekte hoffe ich, den Diskurs über Gefahren und Möglichkeiten der Nation auf eine klarere Grundlage zu stellen.
Bisher hat noch niemand eine praktikable Alternative für den Nationalstaat gefunden. Kritiker, die ihn dennoch ablehnen, lassen sich vielleicht mit vier Aufgaben des zivilen Nationalstaats überzeugen. Die erste ist der Nationalstaat als Rechtsraum. „Wer immerfort dem Nationalstaat das Totenglöcklein läutet“, schrieb Ralf Dahrendorf, „zerstört damit ungewollt auch die Fundamente von Rechtsstaat und Demokratie, die einstweilen nur im Nationalstaat sicher sind.“ Die zweite Aufgabe ist der Nationalstaat als Ort der Integration. Er macht Menschen aus aller Welt, die in ihm ihren Lebensmittelpunkt finden, das Angebot, heimisch und zugehörig zu werden. Die dritte Aufgabe ist der Nationalstaat als Kulturraum. Er ist der Rahmen für eine Entwicklung und Pflege von Sprachen, Geschichten und Künsten im Plural. Die vierte Aufgabe des zivilen Nationalstaats ist die historische Verantwortung. Nur in diesem Rahmen können sich Menschen über verschiedene Generationen hinweg an menschenverachtende Verbrechen in der Vergangenheit erinnern, sich für sie verantwortlich fühlen und dieses Wissen auch in die Gestaltung der Zukunft einbringen.
Historische Rückversicherung - Stefan Zweigs Vision von Europa
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war das Scheitern der imperialen Nationen, die sich mit größten Verlusten und materiellem Aufwand gegenseitig zerstört hatten, offenkundig. Aus der Erfahrung der Niederlage wuchs auf der einen Seite Hitlers Vision eines imperialen Deutschlands, das sich Europa unterwirft, und auf der Gegenseite demokratische Europa-Visionen, nicht zuletzt von denen, die gleichzeitig als Juden Deutschland und Österreich verlassen mussten. Denn Europa wurde nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschaffen, sondern bereits nach dem Ersten Weltkrieg von demokratischen Kreisen, Staatsrechtslehrer*innen und Intellektuellen entworfen.
Der jüdische Staatsrechtler Moritz Bonn zum Beispiel erklärte bereits 1931 das politische Modell ‚Imperium‘ für erledigt und ging davon aus, dass es durch eine ‚Föderation‘ ersetzt werden würde. Die Gründung der Europäischen Union hat ihm Recht gegeben. Es entstand erstmalig in der Geschichte ein Staatenverbund, der sich auf Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Wohlstand durch eine gemeinsame Wirtschaftszone und eine auf Menschenrechten basierende diverse Zivilgesellschaft gründete. Mit diesem neuen Modell der EU wurde der Nationalstaat rechtlich und politisch gezähmt, aber die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern, wie immer klarer hervortritt, auch eine Wertegemeinschaft.
Auch Stefan Zweig gehörte zu denen, die sich fragten, wie nach der Explosion kollektiven Hasses in Europa ein nachhaltiger Frieden geschaffen werden könne. Er machte sich dabei keine Illusionen; von seinen Zeitgenossen erwartete er sich keine Umkehr. Deshalb richtete er seine Hoffnung auf die nachwachsende Generation und entwickelte in utopischem Geist ein europäisches Erziehungsprogramm für die Jugend. Wer das heute liest, kann nur staunen, wie viel davon – tragischerweise erst nach einem weiteren Krieg – tatsächlich umgesetzt worden ist. Bei der Suche nach einem Heilmittel, das Hass und Nationalismus überwinden sollte, ging er von einem einfachen Grundgedanken aus. Er besteht darin, „die Gemeinsamkeit zwischen den Völkern Europas stärker zu betonen als ihren Widerstreit.“ Er empfahl, „die gemeinsame Heimat Europa und die ganze Welt, die ganze Menschheit zu lieben, den Begriff Vaterland nicht feindselig, sondern in einer Verbundenheit mit anderen Vaterländern darzustellen.“ (43)
An die Stelle einer Pädagogik, die auf einer heroischen Kriegsgeschichte basiert, empfahl Zweig eine Kulturgeschichte, in der gemeinsame Leistungen wie Entdeckungen und Erfindungen, Kunst, Wissenschaft und Technik im Mittelpunkt stehen. Bildung und Ausbildung sollen „jenes dumpfe Misstrauen zwischen den Nationen“ auflösen, das die Beziehung zwischen Staaten vergiftet. (51) Der zukünftige europäische Mensch, wie Zweig ihn entwarf, soll gerade auch die Leistungen „der anderen Völker, ihr Positives und Schöpferisches kennenlernen, und zwar durch eine unmittelbare Anschauung.“ (48) Seine konkreten Empfehlungen für ein praktisches Lernen in Europa durch Reisen und gegenseitigen Austausch sind ein halbes Jahrhundert später in die Realität umgesetzt worden durch Generationen von Backpackern mit billigen euro-rail Tickets im Schengen-Raum, mit Erasmus-Stipendien an europäischen Universitäten und Idealisten, die ein gemeinnütziges soziales Jahr jenseits der eigenen Grenzen absolvieren. Aber auch seine Idee einer „energienverstärkenden“ europäischen Publizistik ist umgesetzt worden in Zeitschriften wie Merkur, Lettre International und Eurozine, wo der „Widerstreit der Nationen, statt ihn völlig auszuschalten, in Zusammenarbeit“ mündet. (52) Leider hat sich Zweigs Sorge um den Verfall der Massenmedien durch die Zunahme gedruckter Lügen, verletzender Polemik, Hass, Hetze und Verleumdungen in Zeiten des Internets und der sozialen Medien nicht aufgelöst, sondern eher noch verschärft.
Während die Nationalgeschichte auf Hass gegründet ist und ihn ständig erneuert, indem sie sich mit Rechtfertigungen und heroischer Selbsterhöhung ewig im Kreise dreht, eröffnet die Kulturgeschichte für Zweig die Möglichkeit eines Fortschritts-Narrativs, weil sie sich auf das gründet, was eine Nation der anderen verdankt und auf diese Weise das gemeinsame Wohl steigert.
Zweigs Zukunftsutopie einer europäischen Kulturgeschichte als ungebrochenes Fortschritts-Narrativ mit einem „Aufstieg ohne Ende“ (47) können wir heute in dieser Form nicht mehr teilen. Zum einen, weil wir Nationalismus und Europa nach 1945 nicht mehr ganz so säuberlich trennen können, wie er es 1932 noch tat, und zum anderen, weil wir den Stolz auf Europa und seine Vorherrschaft nicht mehr teilen. (48) Diese Europa-Vision muss auf neue Grundlagen gestellt, dekolonisiert und immer wieder transformiert werden. Was von Zweigs Denken jedoch weiterhin hoch aktuell ist, ist das Programm eines neuen Lehrplans für die Jugend Europas, der die Perspektive der ‚Nation gegen Europa‘ durch eine Perspektive der ‚Nation in Europa‘ ersetzt. Er war sich darüber im Klaren, dass im neuen Lehrplan auch Identifikation und kollektive Gefühle verankert werden müssen und ging davon aus, dass Ehrfurcht und Begeisterung ebenso gut für geistige und künstlerische Leistungen erweckt werden können wie für blutige Schlachtenberichte. Statt sich gegenseitig Furcht einzuflößen, sollten sich Nationen durch das auszeichnen, was ihnen „Liebe und Ehrfurcht in der ganzen Welt einbringt und das Ansehen ihrer Sprache und der geistigen Leistung steigert“. (48)
Zweigs Vision für Europa hat nichts von ihrer Aktualität verloren: Es ging ihm um „das Ideal höherer Eintracht zwischen den Nationen bei Wahrung der Eigenart aller Nationen“. (55) Mit dieser prägnanten Formel hat er den Kern der europäischen Idee vorweggenommen. ‚Einheit in der Vielfalt‘ bedeutet nämlich nichts anderes, als dass in der EU Grenzen nicht ab- und ausschließend, sondern als durchlässige Kontaktzonen der kulturellen Übersetzung und des kommunikativen Austausches zwischen Städten und Regionen wahrgenommen werden. Um diesen Austausch zu stützen bedarf es zukunftsträchtiger und nachhaltiger Erziehungsprogramme, die in Fragen der Identität von Homogenität auf Pluralität, von Hass auf Dankbarkeit, von Krieg auf Frieden, und von der Bewunderung militärischer Gewalt auf die gegenseitige Anerkennung geistiger und kultureller Leistungen umstellen.
Ausblick ins Ungewisse
Auf diese Weise versuchte Stefan Zweig, zu einer ‚moralischen Entgiftung Europas‘ beizutragen. Das Gift, um das es damals ging und mit dem wir auch heute wieder zu tun haben, ist der Hass. Zweig schrieb vor 100 Jahren aus der Position einer „Generation, die den fürchterlichsten Hass der Welt gekannt (und) diesen Hass hassen gelernt hat, weil er unfruchtbar ist und die schöpferische Kraft der Menschheit mindert.“ (56) Mit diesem Hass sind wir heute aufs Neue und zwar in einer bis vor Kurzem unvorstellbaren Weise konfrontiert. Auf den kalten Krieg ist ein heißer Krieg in der Mitte Europas gefolgt. Mit Putins Angriffskrieg haben wir eine weitere Zeitenwende erlebt. Sie ist erneut von einer Ost-West-Polarisierung geprägt, nur dass sie nun nicht mehr nur Europa, sondern die ganze Welt spaltet. Täglich und stündlich konfrontiert uns der Krieg mit neuen Formen der Zerstörung, der Aggression und des menschlichen Leids. Dabei geht es auch jetzt wieder um Nation und Nationalstaat. Wir erleben Putins Russland als militante Nation, die sich nostalgisch den Mantel des Imperiums umwirft und anachronistisch ihre Macht- und Gebietsansprüche gegen jegliche Völkerrechtsvereinbarung durchsetzt. Gleichzeitig erleben wir die Ukraine, die umgekehrt für ihr Recht und ihre Freiheit kämpft, einem Verbund ziviler Nationen beizutreten, die bereit sind, ihre Macht zu teilen, indem sie ihre Souveränität freiwillig einschränken und ihre Probleme friedlich lösen.
Doch schon vor dem Krieg gegen die Ukraine ist mit der Zunahme von Migration und dem Druck auf europäische Grenzen auch der Druck auf die EU gestiegen. Seit 2015 haben rechte Parteien in Europa Zulauf, es gibt deutliche Renationalisierungsbewegungen. Der Nationalismus im Zeichen der illiberalen, ethnisch homogenen und militanten Nation findet in Ländern wie Italien wieder Zulauf und knüpft ungeniert an die eigene faschistische Vergangenheit an. Die Polarisierung zieht sich inzwischen auch durch die EU; dabei ist die Mitgliedschaft in der EU selbst zu einem Lackmus-Test für demokratische Werte geworden. Sie steht mit dem Beitritt nicht ein für alle Mal fest, sondern muss in den Mitgliedstaaten immer wieder neu errungen und verteidigt werden. Was gerade auf dem Spiel steht, hat Jeremy Rifkin vor fast 20 Jahren klar ausgesprochen. Sein Katalog von Werten gilt weiterhin, wenn wir den Kampf gegen Klimawandel und den Raubbau der Ressourcen hinzufügen. „Universelle Menschenrechte, soziale Rechte, Frieden, Lebensqualität, Nachhaltigkeit, Inklusion, Solidarität, kulturelle Vielfalt und Verschiedenheit, Balance zwischen Arbeit und Spiel – das ist der europäische Traum. Natürlich wissen die Europäer, dass die Realität dahinter zurückbleibt. Aber die Welt schaut auf dieses Experiment.“ Das Experiment kann scheitern, die Zukunft ist in radikaler Weise offen. Die Wähler und Wählerinnen werden letztlich entscheiden, ob sich das autokratische Modell der ‚Nation gegen Europa‘ oder das zivilgesellschaftliche Modell der ‚Nation in Europa‘ durchsetzen wird.