→ Forum Zukunft denken – Ein Projekt der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024 in Kooperation mit Deutsche Botschaft Wien und EUNIC Austria

Europa im Wettstreit der großen Mächte. Ein Manifest

1. Die Erwartung, dass mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion eine Epoche des Friedens und der Wohlstandskooperation eingetreten sei, hat sich nicht bestätigt. Was wir derzeit weitreichend beobachten, ist eine Wiederkehr imperialer Einflusszonenpolitik: China betreibt sie vorwiegend mit wirtschaftlicher und fiskalischer Macht; Russland mit militärischen Mitteln, und die USA sichern mit einem Mix von Instrumenten ihre Dominanz im tendenziell globalen Rahmen.

2. Die EU, die von ihrem wirtschaftlichen Gewicht her ein globaler Akteur sein könnte, ist eher ein Zuschauer als ein Mitspieler in dem neu ausgebrochenen Wettstreit der großen Mächte. Sie ist durch das Aufkommen populistischer Parteien in ihren Mitgliedsländern politisch geschwächt. Die zentrifugalen Kräfte sind zuletzt rapide angewachsen – nicht zuletzt infolge von Konflikten über die Aufnahme von Geflüchteten und Migrant:innen, die angemessene Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die einheitliche Politik gegenüber den Kriegen im Nahen Osten. Der wachsenden Zentrifugalität in Europa muss, wenn die EU eine Zukunft haben soll, eine Kraft des Zentripetalen gegenüberstehen, was bedeutet, sie muss entscheidungs- und durchsetzungsfähig sein. Aber wer kann/wer soll das sein? Die Kommission? Der Ministerrat? Das Parlament? Oder eine Gruppe von Mitgliedstaaten? Fest steht auf jeden Fall, dass die EU ohne eine stärkere Hierarchisierung ihrer inneren Struktur nicht in der Lage sein wird, politische Handlungsfähigkeit auszubilden.

3. Ihrem Selbstverständnis nach sind die geografischen Grenzen der EU auch die Grenzen, bis zu denen hin sie ihre Werte und Regeln durchsetzt. Das ist in den letzten Jahren zunehmend schwieriger geworden, weil eine Reihe von Staaten aus den eingegangenen Bindungen und Verpflichtungen ausschert. In der Begrifflichkeit der Imperiumstheorie formuliert, ist die EU „überdehnt“, was heißt, dass die Herausforderungen und Probleme, denen sie sich gegenübersieht, größer sind als die Kapazitäten und Kompetenzen zu ihrer Bearbeitung. Und gleichzeitig stehen weitere Beitrittskandidaten vor der Tür. Im Falle von Überdehnung gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten: die räumliche Schrumpfung oder eine Vergrößerung der Fähigkeiten, also der Ressourcen wie Kompetenzen des Zentrums. Andernfalls wird die Union in die Bedeutungslosigkeit und Niedergang verfallen.

4. Neben institutionellen Reformen bedarf die Union einer Leitidee beziehungsweise eines zündenden Narrativs, in denen deutlich wird, worin ihre Ziele bestehen und welche Rolle sie sich selbst im Hinblick auf den europäischen sowie den globalen Raum zuschreibt bzw. zutraut. Diese Rollenbeschreibung in Form einer Leitidee oder eines Narrativs muss so angelegt sein, dass sie mehr ist als eine aktuelle Zustandsbeschreibung und doch etwas ins Auge fasst, was grundsätzlich zu erreichen ist – also nicht einen bloßen Wunsch darstellt, der außerhalb der Reichweite und Kraft der Union liegt.

5. Die EU ist von ihrer Form her egalitär angelegt: jedes Mitglied hat dasselbe Stimmgewicht und stellt auch eine:n Vertreter:in in der Kommission. Diese Regelung entspricht jedoch nicht dem tatsächlichen Gewicht und auch nicht der Bevölkerungszahl der jeweiligen Mitgliedsländer, was dazu geführt hat, dass es tatsächliche Einflussstrukturen in Brüssel gibt, die nicht der formalen Regelung entsprechen. Dieses Spannungsverhältnis des Formalen und des Tatsächlichen verstärkt die auseinandertreibenden Kräfte, und es stellt sich die Frage, ob unter den gegebenen Bedingungen die Union in der Lage ist, als politisch handlungsfähiger Akteur aufzutreten. In Konkurrenz bzw. im Konflikt mit Russland und China sowie – womöglich – in Distanz zu den USA ist Handlungsfähigkeit aber vonnöten, wenn Europa im globalen Rahmen seine Interessen und Werte zur Geltung bringen will.

6. Die sich zurzeit ausbildende globale Mächtekonkurrenz stellt zugleich einen Systemwettbewerb dar, der auf eine politische Konkurrenz zwischen liberalen Demokratien und autoritären Autokratien hinausläuft. Diese Konkurrenz wird – zuletzt mit Vorteilen für die autokratischen Regime – global ausgetragen. Liberale Demokratien befinden sich demnach international zahlenmäßig im Rückgang. Von besonderem strategischen Interesse für Europa ist dabei der afrikanische Kontinent, auf dem China (vorwiegend im subsaharischen Afrika) und Russland (in der Sahelzone) inzwischen ausgreifende Einflusszonen errichtet haben. Gleichzeitig gehen aber die in Afrika infolge von Bürgerkriegen und Klimawandel entstehenden Flüchtlingsströme in Richtung Europa und stellen eine Herausforderung für dessen Zusammenhalt dar. Die EU muss eine Afrikastrategie entwickeln, die auf fairer Kooperation zwischen Europa und Afrika basiert und durch eine umfassende, von allen EU-Staaten getragene Strategie für Flucht, Migration und Integration ergänzt wird, um die Beziehungen zur Nachbarschaft zu stärken und das Erstarken populistischer Kräfte innerhalb der EU zu verhindern.

7. Europa muss wirtschaftlich und technologisch mit den USA mithalten, um einen unaufholbaren Rückstand und dauerhafte politische Abhängigkeit zu vermeiden. Die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA bleibt zwar bestehen, doch ein wirtschaftlicher Rückstand darf nicht hinzukommen. Dafür ist eine engere und effektivere Kooperation der EU-Staaten in Wirtschaft und Wissenschaft notwendig. Zudem müssen politisch-institutionelle Rahmenbedingungen verbessert werden, um Kapital effizienter zu akkumulieren und den Zugang zu privatem und öffentlichem Risikokapital zu erleichtern. Dadurch können Investitionslücken geschlossen und Innovationen gefördert werden. Die EU sollte den Binnenmarkt in bisher ausgeschlossenen Bereichen vertiefen, regulatorische Rahmenbedingungen optimieren und strategische Kernbereiche stärken, um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben. Der Letta- sowie der Draghi-Report bieten hierzu jeweils umfassende Strategien.

8. Die in den letzten Jahren entstandenen Regionalverbünde innerhalb der EU (Mittelmeerunion, Visegrád- Connection, usw.) sind in ihrer Wirkung ambivalent. Einerseits können sie durchaus die Bearbeitung regionsspezifischer Herausforderungen ermöglichen und damit das Zentrum entlasten sowie in bestimmten Policy-Feldern neue Impulse geben; andererseits haben sie den Effekt, durch das Bedienen von Partikularinteressen die Zentrifugalkräfte zu verstärken und dabei die EU als Gesamtverband in Frage zu stellen, zumal bei jedem größeren Problem dessen Bearbeitung durch Brüssel erwartet bzw. die Solidarität aller Mitgliedstaaten eingefordert wird. Neben einer wohl bedachten Regionalisierung dürfte auf längere Sicht die Stärkung der Zentrale sinnvoll sein, die über entsprechende Haushaltsmittel und vertraglich fixierte Kompetenzen verfügt.

9. Das gegenwärtig in einigen Bereichen fortbestehende Einstimmigkeitsprinzip bei Abstimmungen ist seit den diversen Erweiterungsrunden der ursprünglichen „Gemeinschaft der Sechs“ dysfunktional geworden und muss aufgehoben werden, notfalls durch die Formierung eines aus den großen Mitgliedstaaten bestehenden Zentrums, die dann wesentliche Entscheidungen für Europa an sich ziehen. Diese Drohung sollte genügen, um das auf der Einstimmigkeit beruhende Regime der Vetospieler zu beenden.

10. In Bereichen untergeordneten Interesses könnte als Instrument zur Auflösung des Einstimmigkeitszwangs auch auf Interessensgemeinschaften einzelner Staaten gesetzt werden, wie es in verschiedenen Konzepten („Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, „Koalition der Willigen“) bereits vorgedacht worden ist.

11. Im Übrigen gilt: Alle hier angesprochenen Punkte dienen dazu, die Handlungsfähigkeit der EU in zentralen Problemen, wie dem Klimawandel, dem Schutz der Menschenrechte und der sozio-ökonomischen Ungleichheit, zu erhöhen.

Sebastian Breitwieser, Tabea Hahn, Jakob Osawaru, Jeldrik Schottke, Ludwig Sontag

Herfried Münkler

© Ulrich

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