Eine neue Kultur der alten Dinge
Jens Gottschau (Hanseatische Materialverwaltung)
Waren Sie schon einmal an einem Ort, wo Meerjungfrauen auf schicken Sofas sitzen und Riesenkrokodile alte Litfaßsäulen bewachen? Dies und vieles mehr beherbergt die Hanseatische Materialverwaltung (HMV) im Hamburger Oberhafen-Quartier, ein gemeinnütziger Fundus auf 1200 qm. Die Requisiten kommen aus abgespielten Theater- und Filmproduktionen und wurden in eine innovative Kreislaufwirtschaft aufgenommen, anstatt wie vormals aus Mangel an Alternativlösungen sinnlos entsorgt zu werden. Seit zehn Jahren retten wir diese Schätze und fördern mit besonders günstigen Konditionen den kreativen Nachwuchs und unzählige gemeinnützige Projekte in ganz Hamburg und darüber hinaus – wobei wir die Requisiten zu Staffelpreisen verleihen, so dass die kommerziellen Produktionen die gemeinnützigen finanzieren, denn bei uns kann jede/r niedrigschwellig leihen.
Somit reduzieren wir den CO2-Fußabdruck der großen Kulturproduktionen, schonen öffentliche Gelder, weil sich bei uns bspw. Schulen für wenig Geld ein tolles Bühnenbild leihen können und helfen dabei, viele kleinere Projekte erst zu ermöglichen. Aber vor allem machen wir Mut zu nachhaltigem Handeln, weil es Spaß macht zu uns zu kommen. Die HMV ist das Gegenteil von Verzicht. „Win-Win-Win“ für alle Beteiligen, um einen etwas abgenutzten Begriff zu „re-usen“.
Mehr als ein Fundus
Neben dem Fundus betreibt die Materialverwaltung eine sehr große, wunderschön ausgebaute Außenspielstätte und ist zu einem soziokulturellen Zentrum mit vorwiegend jungem, gesellschaftlich engagiertem Publikum geworden. Wir sind mit diesem Gesamtkonzept in Größe und Relevanz einzigartig in Europa und fungieren damit auch als Vorbild für ähnliche Materialinitiativen. Daher haben wir im letzten Jahr die Gründung eines Dachverbandes initiiert (https://material-initiativen.org/).
Die HMV ist also regional und überregional Dreh- und Angelpunkt für Akteure aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Wir bilden eine Schnittstelle für Kultur, Bildung, Umweltschutz und Stadtentwicklung. Eine neuartige kulturelle Infrastruktur.
Wie kam es zu dieser Erfolgsgeschichte
Sowohl das Problem der alltäglichen Verschrottung von Bühnenbildern und Filmsets, als auch das Problem des dringenden Bedarf an genau diesen Objekten für kulturelle Nutzungen sind in Hamburg besonders groß. Hier haben viele Produktionsfirmen ihren Sitz. In Hamburg blickt man auf eine lebendige Theaterszene mit zahlreichen großen und kleinen Häusern, und die freie Kreativszene mit zahlreichen Projektinitiativen ist sehr aktiv.
Gleichzeitig fehlen genau dieser freien Szene und privaten wie bildungsgeleiteten Projektinitiativen der Raum und die Mittel, um sich visionär und effektiv entfalten zu können. Es findet seit Jahrzehnten eine Verdrängung der kreativen Milieus statt, allein schon wegen der rasant steigenden Mieten.
So war es ein Glücksfall, dass die Stadt den historischen Hauptgüterbahnhof doch nicht abgerissen hat, sondern stattdessen nach Konzepten suchte, um hier ein Kultur- und Kreativ-Quartier zu entwickeln. Wir gewannen die erste Ausschreibungsrunde für eine Hallenfläche und begannen dort einen Materialfundus in einen stadtkulturellen Kreislauf zu bringen. Allerdings konnten wir die Stadt nicht davon überzeugen, sich an dem Vorhaben dauerhaft finanziell zu beteiligen. Wir sollten uns, nach einer Anschubfinanzierung, als Marktteilnehmer selbst behaupten.
Tatsächlich aber wurde die HMV, wie so oft bei erfolgreichen gesellschaftlichen Initiativen, indirekt vor dem Markt für einige Jahre geschützt, indem sie temporär ungenutzte städtische Räume zu sehr günstigen Konditionen bespielen durfte. Dadurch hatten wir zehn Jahre Zeit, um eindrucksvoll unser Potential zu beweisen.
Eine Frage, die offen bleibt, ist die der Übertragbarkeit unseres Konzeptes, insbesondere auf ländliche Regionen. In gewisser Weise muss man sagen: Ja und Nein. Ich glaube, dass die Initiative in Hamburg nur deshalb gelingen konnte, weil es die breite Unterstützung und das Vertrauen von vielen Akteur*innen aus sehr verschiedenen Bereichen der Stadt gab und sie genau auf die Bedürfnisse vor Ort abgestimmt war. Ein anderer Faktor für das Gelingen eines solchen Vorhabens ist es, Zeit zum Lernen zu haben (wir von der Umgebung und auch die Umgebung mit uns) und langsam zu wachsen. Was wir dabei an Erfahrungen gesammelt haben, geben wir gerne weiter (Ruhr Ding 2019, Kulturstiftung des Bundes 2021, documenta fifteen).
Hürden für eine Umsetzung von Materialverwaltung(en)
Die Idee einer Materialverwaltung erschien uns schon damals so offensichtlich und ihre Umsetzung so überfällig, dass wir uns fragten, warum solche Institutionen nicht bereits in jeder wichtigen Metropolregion existieren? Dafür gibt es, meiner Ansicht nach, mehrere Gründe:
- Das Konzept ergibt nur Sinn, wenn es in einer ausreichenden Größe und in zentraler Lage umgesetzt wird. Geeignete Flächen sind jedoch rar, überwiegend nicht mehr im Besitz der öffentlichen Hand und damit meist sehr teuer.
- Die Verwaltung, Weitergabe und der Verleih eines überbordenden Sammelsuriums von sehr speziellen Dingen an freie Kulturschaffende ist extrem arbeitsintensiv.
- Der Mehrwert entsteht in der (Stadt-)Gesellschaft und ist schwer messbar. Die betriebswirtschaftlichen Kosten lassen sich jedoch nur schwer durch Gebühren refinanzieren. Es gilt sogar: Je geringer die Abgabegebühren, desto größer die Materialmengen und ihre positiven Effekte für kreative Aktivitäten der städtischen Kulturlandschaft.
- Als Schnittmengenprojekte fallen die Initiativen aus der Förderlogik und bestehenden Zuständigkeiten. Erstmal klein anzufangen ist jedoch unter Umständen eine gefährliche Sackgasse (siehe Punkt 1).
Welche Zukunft für die HMV?
Auch die HMV muss das Erreichte immer wieder neu gegen die Logik der Rechenschieber verteidigen. Aktuell vor dem Hintergrund der anstehenden Hallensanierungen und einer damit verbundenen extremen Erhöhung der zukünftigen Miete. Bezeichnenderweise zweifelt niemand daran, wie hoch der volkswirtschaftliche Mehrwert oder die gesellschaftliche Notwendigkeit der HMV ist. So läuft das auf die absurde Frage hinaus: Können wir es uns als Gesellschaft „leisten“, all diese materiellen Schätze nicht wegzuwerfen?
Was noch möglich wäre, wenn auch die öffentliche Hand die Chancen erkennt, zeigt uns ein Blick nach New York. Dort gibt es seit den 70er Jahren die Material for the Arts. Auf 20.000 Quadratmetern werden hier gespendete Materialien umsonst an Schulen und akkreditierte Künstler*innen weitergegeben, zudem gibt es ein breites Workshop-Programm. Die Organisation ist staatlich finanziert und für jeden eingesetzten Dollar wird Material im Gegenwert von sechs Dollar gerettet und weitervermittelt, eine unglaubliche Wertschöpfung. Die positiven Nebeneffekte für die Kultur der Stadt New York müssen gigantisch sein.
Die größere Perspektive
Als die HMV im Jahr 2013 gegründet wurde, war die ökologische, kulturelle und politische Krise, die nun immer deutlicher Konturen annimmt, zwar bereits vorgezeichnet, ließ sich aber noch relativ gut verdrängen. Sie verdichtet sich nunmehr zu dem, was im aktuellen Diskurs als „multiple Krisen“ bezeichnet wird. Damit einher geht das Gefühl einer allgemeinen Überforderung angesichts einer hochkomplexen Welt, die auseinanderzubrechen droht. Dieses Ohnmachtsgefühl wird noch vertieft dadurch, dass mit zunehmender Instabilität der Systeme auch die Handlungsspielräume immer weiter eingeschränkt werden. Wir haben uns zu viel bei der Zukunft geliehen und die Zinsen sind bald nicht mehr zu bewältigen.
Ich glaube, dass diese Miesere auch verstanden werden kann als Symptome einer Weltanschauung, die im fundamentalen Widerspruch zur Realität steht und die ich als Narrativ des Getrennt-Seins benennen würde. Die HMV und unsere bisherige Entwicklung macht Mut und zeigt, dass es gar nicht so schlecht um uns bestellt wäre, könnten wir nur gemeinsam eine andere Perspektive einnehmen.
In nachhaltigen Systemen zu denken, bedeutet in Beziehungen zu denken!
Eigentlich haben wir in dieser Frage keine Wahl. Denn nichts, dass nicht nachhaltig ist, kann auf Dauer Bestand haben.